> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Nachlese: Die Reliquie (37)

2020-08-06

J.W.v.Goethe: Nachlese: Die Reliquie (37)




      

Die Reliquie 

Ich kenn, o Jüngling, deine Freude, 
Erwischest du einmal zur Beute 
Ein Band, ein Stückchen von dem Kleide, 
Das dein geliebtes Mädchen trug. 
Ein Schleier, Halstuch, Strumpfband, Ringe 
Sind wirklich keine kleinen Dinge, 
Allein mir sind sie nicht genug. 

Mein zweites Glücke nach dem Leben, 
Mein Mädchen hat mir was gegeben; 
Setzt eure Schätze mir darneben, 
Und ihre Herrlichkeit wird nichts. 
Wie lach ich all der Trödelware! 
Sie schenkte mir die schönsten Haare, 
Den Schmuck des schönen Angesichts. 

Soll ich dich gleich, Geliebte, missen, 
Wirst du mir doch nicht ganz entrissen: 
Zu sehn, zu tändeln und zu küssen 
Bleibt mir der schönste Teil von dir. 
Gleich ist des Haars und mein Geschicke: 
Sonst buhlten wir mit einem Glücke 
Um sie, jetzt sind wir fern von ihr. 

Fest waren wir an sie gehangen; 
Wir streichelten die runden Wangen 
Und gleiteten oft mit Verlangen 
Von da herab zur rundern Brust. 
O Nebenbuhler, frei vom Neide, 
Reliquie, du schöne Beute, 
Erinnre mich der alten Lust. 



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