> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Nachlese: Kinderverstand (30)

2020-08-04

J.W.v.Goethe: Nachlese: Kinderverstand (30)



Kinderverstand 

In großen Städten lernen früh 
Die jüngsten Knaben was; 
Denn manche Bücher lesen sie 
Und hören dies und das 
Vom Lieben und vom Küssen, 
Sie brauchten's nicht zu wissen. 
Und mancher ist im zwölften Jahr 
Fast klüger, als sein Vater war, 
Da er die Mutter nahm. 

Das Mädchen wünscht von Jugend auf 
Sich hochgeehrt zu sehn, 
Sie ziert sich klein und wächst herauf 
In Pracht und Assembleen. 
Der Stolz verjagt die Triebe 
Der Wollust und der Liebe, 
Sie sinnt nur drauf, wie sie sich ziert, 
Ein Aug entzückt, ein Herze rührt, 
Und denkt ans andre nicht. 

Auf Dörfern sieht's ganz anders aus, 
Da treibt die liebe Not 
Die Jungen auf das Feld hinaus 
Nach Arbeit und nach Brot. 
Wer von der Arbeit müde, 
Läßt gern den Mädchen Friede. 
Und wer noch obendrein nichts weiß, 
Der denkt an nichts, den macht nichts heiß; 
So geht's den Bauern meist. 

Die Bauernmädchen aber sind 
In Ruhe mehr genährt, 
Und darum wünschen sie geschwind, 
Was jede Mutter wehrt. 
Oft stoßen schöckernd Bräute 
Den Bräut'gam in die Seite, 
Denn von der Arbeit, die sie tun, 
Sich zu erholen, auszuruhn, 
Das können sie dabei. 



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