Das Innere der Dichtung, wie wir es bisher besprochen, tritt mit seiner Entfaltung in Stil und Sprache bis in das einzelne Wort nach außen und ist in der körperlichen Hülle überall durchsichtig und gegenwärtig. Wie der Umfang des Bildes bei allem Reichtum der Lebenserfahrung, den es einschließt, nicht groß ist, so ist auch in der Diktion Einfalt und schlichte Bescheidenheit das erste Merkmal, das uns in die Augen fällt. Aus dem reichen Schatz von Worten und Wendungen, die die Sprache bot, griff der Dichter nach dem Unscheinbarsten und Gewöhnlichsten; er ist so sparsam an Schmuck, daß der Unkundige, der Verbildete geneigt ist, das Maß für Kälte und die Sparsamkeit für Armut zu erklären. Die äußerste Anspruchslosigkeit zeigt sich gleich bei den Epitheten, mit denen der Dichter die Nennung der Personen begleitet: der treffliche Hauswirt, der menschliche Hauswirt, der gute Vater, der edle verständige Pfarrherr, der wohlgebildete Sohn, der alte würdige Richter, der gehaltene Jüngling, der sinnige Jüngling u. s. w. Dieselbe Schlichtheit herrscht auch sonst in der Wahl adjektivischer Bezeichnungen. Dorothea sagt:
O laßt mich dieser Erinnrung
Einen Augenblick weihen, denn wohl verdient sie der Gute.
Der Pfarrer sagt von Dorotheen, die eben in höchster Erregung ihr holdes Bekenntnis gethan und nun durch die Sturmnacht nach Hause will, wodurch sie jedem um das Geheimnis wissenden Anwesenden so ungemein lieblich erscheinen muß:
Welche Klugheit hätte denn wohl das schöne Bekenntnis
Dieser Guten entlockt?
Dorothea spricht mit demselben Lieblingsworte des Dichters zu Hermann:
Guter, dem ich zunächst ein freundlich Schicksal verdanke.
Und früher am Brunnen:
Da ich finde den Guten, der uns so manches gereicht hat.
Von der Wöchnerin sagt sie:
Ja, ich gehe mit euch, sobald ich die Krüge den Freunden
Wiedergebracht und noch mir den Segen der Guten erbeten.
Hermann spricht zu den Freunden:
Glaubt ihr, es sei ein Weib von solcher Schönheit und Sitte
Aufgewachsen, um nie den guten Jüngling zu reizen?
Und:
Und mit wenigen Worten entscheide die Gute mein Schicksal!
Zu Dorothea auf dem Heimgange:
Gutes Mädchen, halte mich nicht für kalt und gefühllos!
Dorothea zur Wöchnerin:
O, so gedenkt des Jünglings, des guten, der sie uns reichte!
Unmittelbar darauf heißt es:
Und sie kniete darauf zur guten Wöchnerin nieder.
Einige Verse weiter spricht der Richter:
Aber den Menschen, der alles erhält, wenn er tüchtig und gut ist.
Der Pfarrer sagt:
Komm, daß wir um sie werben und bald nach Hause führen die Gute.
Den schreienden Kindern wird versprochen:
Sie geht in die Stadt und bringt euch des guten
Zuckerbrotes genug, das euch der Bruder bestellte.
Nach Goethes Weise, der ganz als Dichter von dem Schlechten nicht abstrakt moralisch verletzt, sondern als von etwas Ordnungswidrigem ästhetisch gestört wird, steht auch in unserm Gedicht dem Wunderlichen und Verworrenen als Tadel das Ruhige und Verständige als Lob gegenüber. Der Vater sagt:
Mir ist lästig dies wunderliche Beginnen.
Ferner:
Leidenschaftlich Geschrei, das heftig verworren beginnet.
Und Dorothea nennt sich da, wo sie dem Vater den Verdruß abbittet, eine Verworrene:
Ja, der erste Verdruß, an dem ich Verworrene schuld war,
Sei der letzte zugleich!
Dagegen ist das Ruhige und Verständige überall das mild lobende Beiwort. Dorothea sagt zu Hermann:
Kommt und empfanget den ruhigen Dank von allen Erquickten!
Der Pfarrer, als er den Richter die Streitenden hat beschwichtigen sehen, preist seinen ruhigen Sinn:
Als der Geistliche nun die Rede des Mannes vernommen und den ruhigen Sinn des fremden Richters entdeckte.
Auch an dem Bürgerlose rühmt er das Ruhige:
Aber jener ist auch mir wert, der ruhige Bürger.
Nein, der Mann bedarf der Geduld, er bedarf auch des reinen
Immer gleichen ruhigen Sinns und des graden Verstandes.
Segnet immer darum des Sohnes ruhig Bemühen!
Hermann sagt von dem Eindruck, den Dorothea auf ihn gemacht:
Als ich die Worte vernahm, die verständigen, war ich betroffen.
Und Dorothea in der Abschiedsszene wiederum von ihm:
Also folg' ich ihm gern; er scheint ein verständiger Jüngling.
Der Pfarrer gibt Hermann dasselbe Prädikat:
Nun verkennet es nicht, das Mädchen, das eurem geliebten
Guten verständigen Sohn zuerst die Seele bewegt hat.
Auch sonst findet sich das gemäßigte Beiwort:
Es ergreift doch nur der Verständ'ge das Rechte.
Ein andermal:
Bald zu thun und gleich, was recht mir deucht und verständig.
Ein drittesmal:
Ach, da sieht man sich um, wer wohl der verständigste Mann sei.
Auch das Reinliche und Saubere erscheint als allgemeines Lob, nicht bloß der Kleider:
Aber ich geb' euch noch die Zeichen der reinlichen Kleider;
sondern auch sonst:
Ließ zurück die Mauern der Stadt und die reinlichen Türme.
Wo die Hengste rasch den reinen Hafer verzehrten.
Knüpften mit sauberen Stricken die Kraft der Pferde.
Wenn ihr im Schatten der Ruh' und der reinen Quelle genießet.
Denn, wer die Städte gesehen, die großen und reinlichen, ruht nicht.
Die ihr das Kinn umgibt, das runde, mit reinlicher Anmut.
Dieselbe Mäßigung zeigt sich in den Ausdrücken für Schmerz und Freude. Ein wiederkehrendes Wort ist das milde 'traurig', ihm gegenüber 'bequemlich', 'erquicklich', 'behaglich', 'freundlich', besonders 'munter'. Das Wort 'munter' kehrt z. B. in der Erzählung des Richters von den Revolutionsereignissen mit kurzen Zwischenräumen dreimal wieder. Mit derselben Einfalt wiederholt sich überall das Wort 'herrlich' als höchstes Lob, zu dem die Rede es bringt: herrlich glänzte der Mond; im Schatten des herrlichen Baumes; die herrliche weite Landschaft.
Streifen nicht herrliche Männer von hoher Geburt nun im Unglück?
Sie sollten uns nicht den herrlichen Boden betreten.
Von der herrlichen That, die jene Jungfrau verrichtet.
Und so fühlt er die herrliche Last.
Es zeigte das herrliche Paar sich.
Alle lobten das herrliche Wasser.
Kam ihm die hohe Gestalt des herrlichen Mädchens entgegen.
Und redet nicht mehr die herrlichen Worte vergebens u. s. w.
Von höchster Anspruchslosigkeit sind auch die folgenden Adjektiva:
Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit.
Von dem würdigen Dunkel erhabener Linden beschattet.
Musen, die ihr so gern die herzliche Liebe begünstigt.
Und so leitet' er sie die vielen Platten hinunter.
Morgen fangen wir an zu schneiden die reichliche Ernte.
Ebenso die adverbialen Zusätze:
Da versetzte der Wirt mit männlichen klugen Gedanken.
Ruhig erwiderte drauf der Sohn mit ernstlichen Worten.
Und es versetzte darauf der Apotheker mit Nachdruck u. s. w.
Dieselbe Blässe des Ausdrucks bei Schilderung der die Personen bewegenden Empfindung. Das Mädchen, sagt Hermann von seiner Geliebten:
Das ich allein nach Haus zu führen begehre.
Wünschtest du nicht noch vorhin, er möchte heiter und lebhaft
Für ein Mädchen empfinden?
Sollt' ich im Arme der Braut, der zuverlässigen Gattin
Mich nicht erfreuen des Kriegs?
Dorothea von ihrer Liebe zu Hermann:
Sondern weil mir fürwahr im Herzen die Neigung sich regte
Gegen den Jüngling.
Wo ich beschämt und ängstlich nur stehe,
Frei die Neigung bekennend und jene thörichte Hoffnung.
Hermann tadelt des Apothekers Egoismus, der
Leiden und Freuden zu teilen
Nicht verstehet und nicht dazu von Herzen bewegt wird.
Dieselbe kühle Wendung braucht der Pfarrer von Hermanns Liebe:
Das Mädchen, das eurem geliebten
Guten verständigen Sohn zuerst die Seele bewegt hat.
Auch die Wonne der endlichen Vereinigung beider Liebenden spricht sich zwar gesteigerter, aber immer noch mit sparsamer Beherrschung des Ausdrucks am Schlusse aus:
Da schön mir die Liebe das Glück hier
Neu bereitet und mir die herrlichsten Hoffnungen aufschließt.
Auch in den Naturszenen sind nur ganz milde Farben aufgetragen:
Die herrliche weite
Landschaft, die sich vor uns in fruchtbaren Hügeln umherschlingt.
So die Schilderung der Weinlese, selbst im vorletzten Gesange die des Gewitters und Mondscheins:
Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne u. s. w.
und später:
Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter u. s. w.
Diese Einfalt und Schlichtheit der Rede hat aber nicht den Sinn, als sei sie dem Gegenstande nicht gewachsen. Im Gegenteil: mit den geringsten Mitteln erreicht der Dichter die tiefste Wirkung. Die Wahrheit ist es, wodurch er wie durch Zauber die Phantasie weckt und das Gemüt rührt. Kein falsches Wort drängt sich zwischen den Gegenstand und die Anschauung, kein ungehöriger Ton trübt die durchsichtige Klarheit, die uns bis ins innerste Herz der Dichtung blicken läßt. Alles bloß Rhetorische, alle künstlichen Blumen, Tropen und Metaphern sind hier ausgeschlossen. Ein Pöbelgeschmack, der grelle Farben liebt, eine durch Gewürz abgestumpfte Zunge, ein kindisches Urteil, das sich durch blitzende Glasperlen bestechen läßt, kann an dieser einfach-wahren Rede kein Gefallen finden, die so schmiegsam dem jedesmaligen Gegenstande sich anschließt, die Empfindung in ihren innersten Tönen voll und leise hervorströmt und überall den gediegenen Gehalt des Gedankens ohne Abzug und Zusatz auf ganz antik naive Weise ausprägt. Je prunkloser und ruhiger sie ist, desto mehr hat es der Dichter in der Gewalt durch vermehrte Wärme, erhöhte Farbe und beschleunigte Bewegung die Wirkung an passenden Punkten ins Unendliche zu steigern. Solche Stellen sind die Blumen unter den Blättern im Kranz:
Gib auch Blätter, den Glanz der blendenden Blumen zu mildern;Auch das Leben verlangt ruhige Blätter im Kranz.
So ist zwar zur Schilderung von Hermanns Liebe nicht viel Aufwand von Worten gemacht, dennoch kommen glühendere Stellen wie folgende vor, wo nun die Wirkung um so tiefer ist:
Ich will den Mund noch sehen, von dem ein Kuß und das Ja mich
Glücklich macht auf ewig, das Nein mich auf ewig zerstöret.
Und süßes Verlangen ergriff sie.
Hermann hörte die Worte nur flüchtig; ihm bebten die Glieder
Innen und stille war der ganze Kreis nun auf einmal.
Wenn der keusche Dichter einmal ein Bild braucht, so übt es gewiß durch beglückende Wahrheit eine ergreifende Macht auf unsre Phantasie. Ein geringerer Dichter hätte sich z. B. die Gelegenheit nicht nehmen lassen das Gewitter, das die Liebenden überfällt, mit Pomp zu schildern: Hier finden wir nur wenige Striche, die aber eine zauberische Wirkung üben. Sie gingen, heißt es, der sinkenden Sonne entgegen, die sich gewitterdrohend in Wolken hüllte und aus dem Schleier bald hier bald dort eine ahnungsvolle Beleuchtung strahlte. Diese Worte malen aufs glücklichste den Zustand des Himmels und der Erde in dem Moment, wo Gewitterwolken die Sonne zu verhüllen drohen. Die Streiflichter fallen dann glühend auf das Feld, über den Wald, sind zerstreut und vorübergehend, erscheinen hie und da, werden abwechselnd vom Wolkendunkel verschlungen und überfliegen die Gegend, wie eine plötzlich erhellende Ahnung den Geist überfliegt, der dann wieder in bewußtloses Dunkel versinkt. Indem Hermann und Dorothea unter den Birnbaum gelangt sind, ist es schon Nacht; nur der Vollmond steht am Himmel. Vor ihnen, sagt der Dichter, lagen in Massen gegen einander Lichter hell wie der Tag und Schatten dunkler Nächte. Das Eigentümliche des Mondlichtes die Welt in große Massen abzusondern ist hier so wahr und einfach angegeben, daß die dadurch erregte Phantasie das Ganze des Bildes leicht vollzieht. Auch in Schillers Erwartung heißt es:
Der Mond erhebt sein strahlend Angesicht,
Die Welt zerschmilzt in ruhig große Massen.
Wie glücklich ist das Gefühl der Wolkennacht in dem Verse ausgedrückt:
Nicht die Nacht, die breit sich bedeckt mit sinkenden Wolken.
Oder das Gefühl des Ackerbaus, der über fruchtbare Ebenen seinen Segen erstreckt:
Von der Erde sich nährend, die weit und breit sich aufthut.
Oder das Gefühl irrender Flucht, entgegengesetzt dem Gefühl der Sicherheit, die fester Anbau gewährt:
Aber zerrüttet die Not die gewöhnlichen Wege des Lebens,
Reißt das Gebäude nieder und wühlet Garten und Saat um,
Treibt den Mann und das Weib vom Raum der traulichen Wohnung,
Schleppt in die Irre sie fort durch ängstliche Tage und Nächte u. s. w.
Wie sehr es dem Dichter um Wahrheit, nicht um die künstlichen Regeln der Rhetorik und Stilistik zu thun ist, lehrt z. B. die Stelle, wo die Mutter unter dem Birnbaum den Sohn auffordert in seinen Geständnissen fortzufahren: Fahre nur fort u. s. w. Hier folgt sich unmittelbar das Wort 'heftig' dreimal, das Wort 'geschickt' zweimal.
Als eine weitere Eigenschaft der Diktion unsres Gedichts ist eine gewisse epische Breite, behagliche Geschwätzigkeit und anmutige Fülle zu erwähnen. Die Rede fließt überall wie ein langsamer breitausgedehnter Strom von Gedanken zu Gedanken. Dahin gehören Stellen wie folgende:
Wenn er ihm täglich nützt und mit den Gütern ihm dienet.
Wo ihm das Ehbett stand und wo er zu ruhen gewohnt war.
Ihr habt mich Auf halbwahren Worten ertappt und halber Verstellung.
Durch dein Wort verführt und deine bedeutenden Reden.
Von dem Geiste geschwätziger Behaglichkeit ist auch die Form der Sätze und Perioden, die in dem Gedichte herrscht, eingegeben. Immer hell und natürlich hält sie eine anmutige Mitte zwischen einem leidenschaftlich abgebrochenen Aufreihen von lauter Hauptsätzen und der rednerischen vielverschlungenen Periodik. Eine immer wiederkehrende Lieblingsverbindung der Sätze ist die mit 'denn', auch wo das Folgende nicht unmittelbar den Grund des Vorhergehenden enthält: diese Partikel verbindet er auf ganz allgemeine Weise mit behaglich-schwatzender Argumentation. Beispiele finden sich überall:
O, wie geb' ich dir recht, du gutes treffliches Mädchen,
Daß du zuförderst dich nach dem Sinne der Eltern befragest!
Denn so strebt' ich bisher vergebens dem Vater zu dienen u. s. w.
Oder:
Aber noch früh genug merkt' ich, sie hatten mich immer zum besten;
Und das war mir empfindlich, mein Stolz war beleidigt, doch mehr noch
Kränkte mich's tief, daß so sie den guten Willen verkannten,
Den ich gegen sie hegte, besonders Minchen, die Jüngste.
Denn so war ich zuletzt an Ostern hinübergegangen u. s. w.
Und:
Laß mich reden, mein Kind, und deine Fragen erwidern.
Deinetwegen kam ich hieher und was soll ich's verbergen?
Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Eltern,
Denen ich traulich das Haus und die Güter helfe verwalten u. s. w.
Oder:
Billig seid ihr, o Freund, zu den guten Wirten zu zählen,
Die mit tüchtigen Menschen den Haushalt zu führen bedacht sind.
Denn ich habe wohl oft gesehn, daß man Rinder und Pferde
So wie Schafe genau bei Tausch und Handel betrachtet u. s. w.
Eine ebenso häufige Uebergangsform ist 'und so', die gleichfalls das Gepräge liebenswürdiger wortreicher Gemütsruhe trägt. Wo wir das Gedicht aufschlagen, stoßen wir auf diese Verbindung:
Und so leitet' er sie die vielen Platten hinunter.
Und so fühlt' er die herrliche Last, die Wärme des Herzens.
Was ein Knecht schon verrichtet des wohlbegüterten Mannes,
Thust du; indessen muß der Vater des Sohnes entbehren,
Der ihm zur Ehre doch auch vor andern Bürgern sich zeigte.
Und so täuschte mich früh mit leerer Hoffnung die Mutter.
Dieser kannte das Leben und kannte der Hörer Bedürfnis,
War vom hohen Werte der heiligen Schriften durchdrungen,
Die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Gesinnung;
Und so kannt' er wohl auch die besten weltlichen Schriften.
Noch eigentümlicher, aber voll Grazie ist die Verbindung mit 'so auch':
Was er begehrte, das war ihm gemäß; so hielt er es fest auch.
Denn er redet gar manches in seiner heftigen Art aus,
Das er doch nicht vollbringt; so gibt er auch zu das Versagte.
Und sie reichte das Wasser herum; da tranken die Kinder
Und die Wöchnerin trank mit den Töchtern; so trank auch der Richter.
Dahin gehört auch die anmutige Art einen Nebenzug in Form eines kurzen Hauptsatzes ohne weitere Verbindung folgen zu lassen:
Und so sitzend umgaben die drei den glänzend gebohnten
Runden braunen Tisch; er stand auf mächtigen Füßen.
Und so kam auch zurück mit seinen Töchtern gefahren
Rasch an die andere Seite des Markts der begüterte Nachbar
An sein erneuertes Haus, der erste Kaufmann des Ortes,
Im geöffneten Wagen; er war in Landau verfertigt.
Wir führen noch drei Stellen an, die für die in dem Gedicht herrschende Satzverbindung charakteristisch sind:
Lange hab' ich gelebt und weiß mit Menschen zu handeln,
Weiß zu bewirten die Herren und Frauen, daß sie zufrieden
Von mir weggehn; ich weiß den Fremden gefällig zu schmeicheln.
Aber so soll mir denn auch ein Schwiegertöchterchen endlich
Wieder begegnen und so mir die viele Mühe versüßen.
Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer,
Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe.
Heilig sei dir der Tag, doch schätze das Leben nicht höher
Als ein anderes Gut; und alle Güter sind trüglich.
So heißt es im Reineke Fuchs:
So scheut das böse GewissenLicht und Tag; es scheute der Fuchs die versammelten Herren,
was prosaisch wäre: der Fuchs scheute die Versammlung, wie das böse Gewissen Licht und Tag zu scheuen pflegt.
Ueberhaupt könnte Hermann und Dorothea gerade im Punkt des Periodenbaus zu einer reichen Quelle der Belehrung werden. Die Rede fließt so verbindungslos und dennoch in so ununterbrochenem Zusammenhang, sie bewegt sich bei dem freisten Gang so voll Numerus, die Glieder, die sich logisch auf einander beziehen, sind oft so weit von einander, ohne jemals die volle Klarheit dieser Beziehung einzubüßen; das epische Prinzip der Episodik durchdringt so sehr jedes einzelne, daß man auch hierin an Homer und die bei diesem Dichter herrschende Einheit von Kunst und kindlicher Einfalt erinnert wird. Jakob Grimm bemerkt in seiner Grammatik, es finde sich nach epischer Weise in Hermann und Dorothea kein einziges Präsens historicum, während in Vossens Luise am Anfang des dritten Gesangs aus der Erzählung gewichen wird und Wielands Oberon nach romanischer Weise solche Präsentia im Ueberfluß hat.
Bei aller Wahrheit und Natürlichkeit unterscheidet sich die poetische Sprache in unserm Gedicht dennoch von der prosaischen des gemeinen Lebens. Der Dichter erreicht diese Idealität, indem er scheinbar den Boden der alltäglichen Rede gar nicht verläßt, ja indem er auf demselben ganz bequemlich sich niederläßt. Die Nachlässigkeiten der mündlichen Rede erhebt er zu poetischen Freiheiten: dies zeigt sich sogleich an der Wortstellung. Diese ist überall die ganz natürliche des täglichen Redens und nirgends gehindert, verschoben und gezwungen wie so oft bei Voß und Klopstock; im Sprechen aber lassen wir ein Wort, das uns erst im Lauf der Rede eingefallen ist, nachfolgen, während es eigentlich schon hätte vorangehen müssen. Dies wendet nun der Dichter als poetische Kühnheit an, z. B.
Was ein Knecht schon verrichtet des wohlbegüterten Mannes
oder:
Die uns sollte hinaus zum Brunnen führen der Linden.
So ist an unzähligen Stellen des Gedichts der Genetiv von dem regierenden Substantiv getrennt. Eben dahin gehört die so häufig vorkommende Nachsetzung des Adjektivs mit dem Artikel, die gleichfalls nur der poetischen Sprache angehört und dennoch aus der Rede des gemeinen Lebens entspringt, wo wir das vergessene Adjektiv gleichsam erklärend nachholen:
Unbewegt und stolz will keiner dem andern sich nähern,
Keiner zum guten Worte, dem ersten, die Zunge bewegen.
Denn wer die Städte gesehen, die großen und reinlichen, ruht nicht.
Nicht anders ist die versetzte Wortfolge bei Stellen wie folgende zu erkären:
Als du zu Pferden nur und Lust nur bezeigtest zum Acker.
Der eine mit schwächeren Tieren
Wünschte langsam zu fahren, der andere emsig zu eilen.
Etwas weiter erhebt sich der Dichter von der Sprache der Prosa in den zusammengesetzten Adjektiven wie folgende: der vielbegehrende Städter, der allverderbliche, der vielbedürfende Krieg, die gartenumgebenen Häuser, die wohlgezimmerten Scheunen, der wohlumzäunte Weinberg, die wohlerneuerte Kirche. So anspruchslos diese Adjektiva auch sind, so wohl sie sich in die deutsche Rede fügen, so erinnern sie doch an die antike Dichtersprache: πάμφθαρτος, πολυφθόρος, εὐκτίμενος, εὐναιετάων und unzähliges andre der Art. Hier ist der Ort auf die vielfachen Anklänge an die Ausdrucksweise der Alten und besondes Homers, die das Gedicht durchziehen, aufmerksam zu machen.
Zwar, so groß die Verwandtschaft ist, die das Goethesche Gedicht in Geist und Ton mit Homer an den Tag legt, so wenig läßt sich sagen, daß der Dichter direkt nachgeahmt hätte. Er ließ sich vielmehr von Homers Anschauungs- und Empfindungsweise ganz durchdringen und schuf dann auf modernem Boden und mit modernen Mitteln ein Gedicht, das in seiner Weise ganz denselben heitern reinmenschlichen stillrührenden Eindruck macht. Dennoch aber hat der Dichter hin und wieder Formeln aus den Alten herübergenommen, mit denen er in heitrer Ueberlegenheit nur spielt, die aber dennoch dazu beitragen den Naturton, die nationale Wahrheit des Denkens und der Rede durch kleine, fremdartig reizende Unterbrechungen noch rührender hervortreten zu lassen oder im Zusammenklang mit den entferntesten Weisen uralter Menschensprache in ihrer ewigen Geltung zu bestätigen. So wird die Wirkung des Gedichts, die wunderbare Harmonie seiner Form durch jene Nachahmungen, die von einer kaum merklichen Ironie angeflogen sind, nur noch erhöht.
Zwei Stellen erinnern uns an Virgil und Cicero. Bei der Szene, wo der ehrwürdige Schultheiß die streitende und drohende Menge durch sein Auftreten schnell besänftigt, scheint der Dichter eine Stelle in Virgils Aeneis vor Augen gehabt zu haben:
Ac veluti magno in populo cum saepe coorta est
seditio saevitque animis ignobile volgusjam
que faces et saxa volant, furor arma ministrat,
tum, pietate gravem ac meritis si forte virum quem
conspexere, silent arrectisque auribus adstant;
ille regit dictis animos et pectora mulcet.
Noch deutlicher ist die Uebereinstimmung einer Reflexion des Richters über den Leichtsinn, mit welchem man Menschen wählt, während man doch Rinder, Pferde und Schafe erst genau bei Tausch und Handel betrachtet, mit einer den gleichen Gedanken enthaltenden Stelle in Ciceros Schrift über die Freundschaft: sed saepe querebatur, quod omnibus in rebus homines diligentiores essent, ut capras et oves quot quisque haberet, dicere posset, amicos quot haberet, non posset dicere; et in illis quidem parandis adhibere curam, in amicis eligendis neglegenter esse nec habere quasi signa quaedam et notas, quibus eos, qui ad amicitiam essent idonei, judicarent. Cicero hat selbst wieder eine ähnliche Stelle in Xenophons Memorabilien vor Augen gehabt, die aber weiter von Goethes Worten abliegt als Ciceros Nachbildung.
Antik ist auch der Anruf der Musen:
Musen, die ihr so gern die herzliche Liebe begünstigt u. s. w.
Aber der Dichter verlegte ihn nicht an den Anfang des ganzen Gedichts, wo er uns kalt und fremd entgegenträte, sondern nachdem wir zu inniger Teilnahme gerührt worden und der ganze Ton des Gedichtes sich unmerklich gesteigert, rufen wir mit dem Dichter die freundlichen Göttinnen an, deren Erwähnung nun halb wie ein frommes Gebet halb wie ein heitres Spiel erscheint. Auch Homer ruft ja nicht bloß am Anfang des Epos, sondern bei bedeutungsvollen Abschnitten die Musen an:
Ἔσπετε νῦν μοι, Μοῦσαι, ὀλύμπια δώματ' ἔχουσαι;
und so ruft auch unser Dichter:
Aber saget (ἔσπετε) vor allem, was jetzt im Hause geschiehet.
Homer ist reich an Gleichnissen. Unser Dichter hat nur ein einziges, aber ein sehr schönes und wahres:
Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne
Sie noch einmal ins Auge, die schnellverschwindende, faßte u. s. w.
Goethe selbst erklärte diese Sparsamkeit durch den Grund, weil einem mehr sittlichen Gegenstande das Zudringen von Bildern aus der physischen Welt nur lästig gewesen wäre, d. h. er hatte nicht so viel äußerlich Sinnliches zu schildern wie Homer, sondern mehr Seelenvorgänge; ganz derselbe Unterschied wie zwischen seiner Iphigenie und der griechischen. Zwei andre Gleichnisse treten nicht in Gestalt selbständiger Teilgebilde hervor, sondern sind mehr in die Rede verflochten.
Auch die homerische Sitte schon dagewesene Stellen mit gleichen Worten zu wiederholen ist nur einmal in unserm Gedicht nachgeahmt, bei Schilderung nämlich von Dorotheens Tracht. Gerade dadurch aber wird das Mädchen aufs festeste unsrer Anschauung eingeprägt. Der ganze Ton dieser Schilderung ist übrigens homerisch und das Altertümliche darin kontrastiert auf drollige Weise mit dem Modernen in der Tracht der heutigen Bäuerin, so daß auch hier die schon erwähnte leichte Ironie sich zeigt.
Gleichfalls homerisch ist die Detailschilderung des Anschirrens der Pferde:
Hermann eilte zum Stalle sogleich, wo die mutigen Hengste
Ruhig standen und rasch den reinen Hafer verzehrten u. s. w.
Auch hier liegt in der Anwendung homerischer Formen auf die Stallgeschäfte eines heutigen Burschen ein Zug ironischer Schalkhaftigkeit.
Die halb ernste halb scherzende Wendung, wodurch der Dichter die Person, die er als sprechende bezeichnen will, selbst anredet, ist ebenfalls dem Homer nachgebildet. Wie Homer den Eumäus anredet:
Τὸν δ' ἀπαμειβόμενος προσέφης, Εὔμαις συβῶτα,
so spricht auch unser Dichter zum Apotheker:
Aber du zaudertest noch, vorsichtiger Nachbar, und sagtest,
und zum Richter:
Aber du sagtest indes, ehrwürdiger Richter, zu Hermann.
Auch Homers Weise jeder Person, jedem Gegenstande ein Adjektiv beizugeben, welches nun zum festen Begleiter des Substantivs wird ohne Rücksicht auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stelle, auch diese freundlich epische Weise, die mit heitrer Anerkennung kein Ding ohne rühmendes Beiwort lassen will, findet sich in unserm Gedicht wieder. Da heißt es: die reinlichen Türme, der kräftig strotzende Kohl, die mutigen Hengste, die schön versilberten Schnallen, die saubern Stricke, die geräumigen Plätze, der gewölbte Busen, die reinliche Anmut, zierliches Eirund, die wohlgebildeten Knöchel u. s. w. Selbst Homers fixierte Adjektiva fehlen nicht:
Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Eltern.
Und es erstaunten die Freunde, die liebenden Eltern erstaunten.
Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern.
In der Abschiedsszene heißt es von den fremden Frauen:
Denn so sagte wohl eine zur andern flüchtig ans Ohr hin,
und gleich darauf:
Aber ein' und die andre der Weiber sagte gebietend;
beide Verse nahe übereinstimmend mit dem homerischen:
ὧδε δέ τις εἴπεσκεν, ἰδών ἐς πλησίον ἄλλον.
Noch andre homerische Formeln sind: mit fliegenden Worten, mit geflügelten Worten (ἔπεα πτερόεντα), da befahl ihm sein Geist (θυμὸς ἄνωγεν, ἐποτρύνει, κελεύει), und süßes Verlangen ergriff sie (καί με γλυκὺς ἵμερος αἱρεῖ), denn Zwiespalt war mir im Herzen (διάνδιχα μερμήριξα). Auch die homerische Umschreibung mit »Kraft« (μένος, ἴς βίη) ist einigemal angewandt:
Abgemessen knüpften sie drauf an die Wage mit saubern
Stricken die rasche Kraft der leicht hinziehenden Pferde.
Und freuteSich der eigenen Saat und des herrlich nickenden Kornes,
Das mit goldener Kraft sich im ganzen Felde bewegte.
Griechisch ist die Umschreibung mit »Mann«: der wandernde Mann (ἀνὴρ ὁδοιπόρος), ein Knecht des wohlbegüterten Mannes (ἀνὴρ ἀφνειός), der Richter von diesen flüchtenden Männern (ἀνὴρ ἱκέτης), die häufige Wiederkehr der Versicherungsformel »fürwahr« und »wahrlich«, die Verbindung des Verbums »sein« mit dem Dativ, z. B. dem ist kein Herz im ehernen Busen (χάλκεον ἦτορ), dem ist kein Sinn in dem Haupte (ἐν φρεσὶ θυμός), mir ist im tiefsten Herzen beschlossen, wäre mir jetzt nur Geld in der Tasche, und es ist mir genug davon im Kasten des Wagens u. s. w.
Noch leisere Homerismen ließen sich in Menge anführen, nur daß die Grenze, wo sie beginnen und die ungemischt deutsche Ausdrucksweise aufhört, nicht zu bestimmen ist, da die fremde Färbung oft nur wie ein kaum sichtbarer Hauch über die nationale Rede hinschwebt:
Aber ich geb' euch noch die Zeichen der reinlichen Kleider.
Viele Leinwand der Tochter von feinem und starkem Gewebe.
Des Gewinnes,Welcher sich reichlich um ihn und um die Seinen herumhäuft.
Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist.
Aber keine von allen erschien die herrliche Jungfrau.
Aber es kommt der Abend heran und die vielen Gespräche
Sind nun zwischen ihm und seinen Freunden gewechselt.
(Das Gespräch), das viel hin und her nach allen Seiten geführt wird.
Und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten.
Da freut' ich mich seines
Anblicks so sehr, als wär' mir der Himmlischen einer erschienen.
Daß ich diene daselbst den reichen trefflichen Eltern.
Liegt die erst entbundene Frau des reichen Besitzers.
('Besitzer' deutsch nicht ohne Ergänzung möglich, nicht absolut.)
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